Dr. Reinfrid Vergeiner, Vizepräsident „Österreichische Gesellschaft für Festungsforschung“ (office@kuk-fortification.net)
Es sollten einige Tage militärische Alpinausbildung in einer faszinierenden Bergwelt werden, aber es wurde ein Albtraum, aus dem 14 Landesschützen nicht mehr lebend zurückkamen! Am 4. März 2014 jährt sich die Lawinenkatastrophe am Ortler zum 100sten Mal, und wenn auch diesem Jahrestag 2014 das gleiche Schicksal wie dem Unglück selbst im Jahr 1914 droht, nämlich ein Untergehen in den Ereignissen, welche der Ausbruch des Weltkriegs mit sich brachte, so verdient diese tragische Begebenheit dennoch unsere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil sie seinerzeit nicht nur höchste Kreise in der Armee beschäftigte, sondern auch öffentliche Reaktionen mit zum Teil heftiger Kritik an den militärischen Ausbildungsmethoden hervorrief. Im Folgenden soll erstmals umfassend der Hergang und die Folgen dieses tragischen Ereignisses unter Verwendung von archivalischen Quellen geschildert werden.
Am Sonntag dem 1. März 1914 brachen sechs Mann des I. Bataillon des Landesschützenregiments III, unter der Führung von Leutnant (Lt.) Stefan Gaidos von Fiera di Primiero aus auf, um zur Skiausbildung in das Ortlergebiet zu marschieren. Über das Val Sugana und Bozen erreichte man am 3. März Spondinig. In Bozen hatte man sich mit der ebenfalls zu diesem Schikurs abkommandierten Mannschaft des II. Bataillons aus Predazzo und dem Leiter des Kurses, Oberleutnant (Oblt.) Richard Löschner vom IV. Bataillon (Innichen) vereinigt. Von Spondinig ging es zu Fuß weiter bis Gomagoi. Die Mannschaft bezog Quartier in der Straßensperre, und die Offiziere logierten im Gasthof „Zur Post“. Im Laufe des Abends gesellte sich der Sperrkommandant Lt. Werner Güntner zu der Offiziersgruppe und drängte darauf, am nächsten Tag mitkommen zu dürfen, da ohnehin ein Grenzpatrouillengang in diesem Gebiet fällig war und es eine Ehre wäre mit Löschner gemeinsam eine Tour zu machen. An diesem Abend kam es auch schon zu einem Zusammentreffen mit dem Bergführer Anton Thoma, dem späteren Beobachter und Melder des Lawinenabgangs.
Um 7 Uhr 20 des 4. März brachen 19 Mann, davon drei Mann von der Sperrbesatzung Gomagoi, auf, um an diesem Tag bis zur Payerhütte aufzusteigen und dort zu übernachten. Zunächst folgte man zu Fuß dem Weg in Richtung der heute zerstörten Alpenrosenhütte, um dann weiter per Schi das Hochleitenkar zu erreichen. Von dort ging es im großen Abstand zwischen den Teilnehmern weiter, da das Gelände laut Überlieferung nicht lawinensicher schien. Um etwa 13 Uhr erreicht der Schikurs die Edelweißhütte, wo eine Stunde lang Rast gemacht wurde. Auf Grund der nicht sicheren Lawinensituation entschloss man sich, entlang des Sommerweges zur Tabarettascharte aufzusteigen und von dort weiter zur Payerhütte zu gelangen. Kurz nach 16 Uhr war man knapp unter der Scharte unterwegs, als sich unter dumpfen Krachen plötzlich die gesamte Schneedecke unter den Schiern in Bewegung setzte. Diese Beschreibung des Beginns des Lawinenabgangs lässt vermuten, dass die Landesschützen die Lawine selbst ausgelöst hatten.
Aufgrund der Aussagen der Überlebenden war es nicht allein diese erste Lawine, durch die sie verschüttet wurden, sondern es brach noch eine zweite Lawine ab, die sich mit der ersten Lawine vereinte. Nach den Aufzeichnungen von Lt. Gaidos gelang es ihm und dem Landesschützen (LSch.) Francesco Scalett, sich nach längerer Zeit aus den Schneemassen der 600 Schritt langen und 60 bis 80 Schritt breiten Lawine zu befreien. Gemeinsam begannen sie die Suche nach den verschütteten Kameraden. Es gelang Ihnen die LSch. Andreas Fischnaller, Wilhelm Erschbaumer und Andreas Unterberger lebend auszugraben. Oblt. Löschner wurde ebenfalls rasch gefunden, war jedoch bereits tot. Die inzwischen herrschende Dunkelheit und ein einsetzender Schneesturm machten ein Verweilen auf der Lawine unmöglich, und so begaben sich die Überlebenden unter widrigsten Verhältnissen zurück zur Edelweißhütte. Wegen des allgemeinen Erschöpfungszustandes, des Schneesturms und der mangelnden Ausrüstung, entschloss sich Lt. Gaidos erst am folgenden Morgen ins Tal abzusteigen, um Hilfe zu holen.
Zur Zeit des Lawinenabgangs befand sich der Bergführer Thoma auf der gegenüberliegenden Talseite im Gebiet der Tartscher Alm und beobachtete den Aufstieg des Schikurses unterhalb der Payerhütte. Als er das Unglück sah, eilte er nach Trafoi, um eine Hilfsaktion einzuleiten. Er verständigte um etwa 18 Uhr telefonisch die Gendarmerie und das Sperrkommando in Gomagoi von den Ereignissen. Thoma brach noch um 23 Uhr mit dem Bergführer Karl Platzer, dem Gendarmeriewachtmeister Ferrer und drei Mann der Sperre Gomagoi von Trafoi aus zur Unglücksstelle auf. Sich die ganze Nacht durch den Schneesturm kämpfend, erreichte die Gruppe erschöpft zwischen 5 und 6 Uhr morgens die Edelweißhütte.
Auf Grund der immer noch schlechten Witterung am Morgen des 5. März entschloss sich Lt. Gaidos mit der gesamten Mannschaft nach Trafoi abzusteigen. Nur die Bergführer und der Gendarm blieben auf der Hütte zurück, um im Fall einer Wetterbesserung, den Lawinenkegel abzusuchen. Gegen 10 Uhr vormittags erreichte die Gruppe Trafoi, und Gaidos meldete die erste gesicherte Nachricht an die militärischen Dienststellen. Das Militärstationskommando in Schlanders beorderte innerhalb von 40 Minuten 43 Mann des I. Bataillons des Infanterie-Regiments Nr. 28 als erste Rettungseinheit mit dem Zug nach Spondinig bzw. Trafoi ab. Auch das I. Bataillon des Landesschützenregiments II in Meran entsandte ein weiteres Rettungsdetachement.
In Trafoi eingetroffen, entschied der Leiter der Bergungsaktion, Oberstleutnant (Obstlt.) Johann Balzar, auf Grund der widrigen Witterungsverhältnisse und der Meldungen der zurückgekehrten Bergführer, die den Lawinenkegel den ganzen Tag erfolglos abgesucht hatten, dass die Bergungsarbeiten am 6. März zu beginnen hätten. An diesem Tag stiegen ab 4 Uhr 30 drei militärische Bergungstrupps, wieder begleitet von den Bergführern Thoma und Platzer sowie dem Bergführeraspiranten Josef Platzer, zur Unglückstelle auf und begannen mit der Suche und Bergung der Opfer. Am Nachmittag des Folgetages konnte Obstlt. Balzar telegraphisch aus Gomagoi an das Ministerium für Landesverteidigung melden, dass alle 14 Verunglückten geborgen seien.
Das Begräbnis des Großteils der verunglückten Mannschaft fand am Montag den 9. März nachmittags in Trafoi unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Geschätzte 2000 Personen gaben das letzte Geleit. Neben der Bevölkerung und Vereinen aus der Region und diversen militärischer Abordnungen waren auch der Minister für Landesverteidigung, der Stadthalter von Tirol, der Kommandant des 14. Korps und andere Vertreter des öffentlichen Lebens zum Begräbnis erschienen. Die 14 Särge waren vor dem Hotel „Zur Post“ aufgestellt worden. Nach der Einsegnung im jeweiligen Glaubensritus ging der Leichenzug zur Dorfkirche von Trafoi. Der militärische Kondukt wurde vom Überlebenden Lt. Gaidos kommandiert, und die vier überlebenden Landesschützen trugen den Sarg von Oblt. Löschner. Nach einer kurzen Rede des Korpskommandanten General Dankl wurden elf Särge in ein Gemeinschaftsgrab abgesenkt. Es waren dies Lt. Werner Güntner, die Fähnriche Franz Otter und Franz Kaiser, der Patrullführer Johann Mangl und die LSch. Karl Zimmermann, Stefan Zuzanek, Franz Kranzinger, Josef Günther, Matthias Mayr, Johann Hubner und Josef Buchinger. In ihre Heimatgemeinden überführte man Oberleutnant Löschner, Unterjäger Andreas Zimmermann und Johann Schuster. So schnell wie das Unglück über die Region hereingebrochen war, so schnell löste sich auch das Großaufgebot an Trauernden wieder auf. So etwa wurde schon am Mittwoch den 11. März der Landesverteidigungsminister von Kaiser Franz Josef zur Berichterstattung empfangen.
Die fünf Überlebenden Landesschützen kehrten nach den Begräbnisfeierlichkeiten in Ihre Garnisonsorte zurück, wo ihnen durch die Bataillone große Empfänge bereitet wurden. Anfang Mai 1914 wurden ihnen das Militärverdienstkreuz bzw. silberne Verdienstkreuze verliehen. Auch die an der Bergung beteiligten Bergführer erfuhren diverse Anerkennungen. Es blieb ihnen jedoch versagt, die im Aktenverkehr schon bewilligten silbernen Verdienstkreuze in Empfang zu nehmen, da mit Ausbruch des Weltkrieges, alle nicht kriegsbezogenen Aktivitäten aufgeschoben wurden. Nach dem Umbruch von 1918 wurden die Ehrungen allerdings nicht mehr vorgenommen.
Bereits während der Bergungsaktion herrschte großes öffentliches Interesse und Anteilnahme an den Geschehnissen am Ortler. So sandte noch am 5. März abends Kaiser Wilhelm ein Kondolenztelegramm an Kaiser Franz Joseph. Dieser drückte seinerseits der Truppe seine „wärmste Teilnahme“ aus und ließ prüfen, wie den Hinterbliebenen geholfen werden könnte. Zwei Monate nach dem Unglück erhielten die Hinterbliebenen der Verunglückten insgesamt 10.000 Kronen aus der kaiserlichen Privatschatulle überreicht.
Wie schon kurze angedeutet, entstand in der Presse eine längere und durchaus kontroversielle öffentliche Diskussion, über das Wie und Warum dieses Unglücks, mit der damals oft geübten Praxis der behördlichen Beschlagnahme einzelner Zeitungsausgaben. Die Hauptkritikpunkt war die Aussage, dass solche hochalpinen Touren keinen militärischen Zweck hätten und man dadurch das Leben der Soldaten leichtfertig gefährde. Die wenige Monate später eingetretene Realität, in der Truppen dauerhaft in Höhen bis 3000 Meter und mehr im Einsatz waren, beendete jede weitere Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Übungen im Hochgebirge.
Ein weiterer Kritikpunkt nahm die konkreten Ereignisse ins Visier. Man bemängelte mit einiger Berechtigung die Entscheidungen der verantwortlichen Offiziere, die sich auf diese Tour begeben hätten, obwohl seitens der einheimischen Bergführer und auch der Bevölkerung auf die schlechten Wetterverhältnisse hingewiesen worden war. Man habe diese Warnungen ignoriert, etwa jene des Johann Mazagg, der das Schikursdetachement als letzter Ortskundiger bei seinem Abmarsch aus Trafoi noch getroffen hatte. Den Quellen zufolge, waren sich der Leiter des Kurses, der Oblt. Löschner und auch sein Stellvertreter der lawinenkritischen Situation bewusst, jedoch schätzten sie die Gegebenheiten wohl noch als kalkulierbares Risiko ein. Löschner galt zu dieser Zeit als einer der erfahrensten Militäralpinisten Österreich-Ungarns und hatte schon unzählige militärische Schitouren und -kurse geleitet. Er war für seine Zeit sicherlich am letzten Wissensstand über die alpinen Techniken und Gefahren. Ob er die Situation auf Grund anderer Einflüsse wie militärischer Standesdünkel oder Überheblichkeit falsch eingeschätzt hat, kann aus den zur Verfügung stehenden Akten und Aufzeichnungen nicht abgeleitet werden.
Das Unglück und seine mediale Diskussion führte jedenfalls dazu, dass im Parlament in Wien eine Interpellation an den k.k. Landesverteidigungsminister gerichtet wurde, die darauf abzielte, dass solch gefährliche Touren verboten würden und die schuldigen Befehlshaber an diesem Unglück der verdienten Strafe zugeführt würden. In seiner Beantwortung schilderte der Landesverteidigungsminister den genauen Hergang des Unglücks und ging auch auf den Ausbildungsstand der Truppe im Allgemeinen und Speziellen ein. Nach dieser parlamentarischen Beantwortung ebbte das öffentliche Interesse ab, und es mag mit den Augen des 21. Jahrhunderts als auffällig erscheinen, dass sich das Interesse einen individuellen Schuldigen an dieser Katastrophe zu benennen, sehr in Grenzen hielt. Im Gegensatz zu heute wurde das Ereignis als unglücklicher Zwischenfall im Hochgebirge wahrgenommen und auch als solcher abgehandelt.
Zur Erinnerung an dieses Unglück wollte man ein Denkmal für die Verunglückten errichten, jedoch erlitt es dasselbe Schicksal wie die Auszeichnungen für die Bergführer. Es fiel ebenfalls dem Weltkrieg und dem Umbruch zum Opfer, denn noch 1960 befand sich an der Stelle des Massengrabes in Trafoi nur ein einfaches Grabkreuz. Auf Initiative des damals noch lebenden Majors Gaidos führte der Kaiserschützenbund Wien-Niederösterreich eine Spendensammlung durch und konnte am 25. September 1960 in einer Gedenkfeier den heute bestehenden Grabstein einweihen.
2014 findet das Lawinenunglück vom 4. März 1914 nun die hundertjährige Wiederkehr seines Geschehens. Auch wenn die öffentliche Wahrnehmung schon 1914 durch das ungleich wirkungsmächtigere Fanal des ersten Weltkriegs zu verblassen begann und wohl auch das heurige Gedenkjubiläum im breiten Strom der Weltkriegs-Memoria wieder untergehen mag, ist es doch bemerkenswert, dass die Erinnerung daran nicht völlig verschwunden, sondern in der Region noch höchst lebendig ist. In diesem Sinne sei diesem Ereignis und seiner 14 Toten am Vorabend des Weltkrieges im westlichsten Winkel der ehemaligen Monarchie auch in Zukunft gedacht.